Das Freud-Institut Zürich
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin:
lic. phil. Eva Schmid-Gloor
Unter dem Namen Freud-Institut Zürich führt die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa) als Tochtergesellschaft der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) ihre Ausbildungsstätte in Zürich.
Das Freud-Institut entstand 1977 in der Folge der Aufspaltung der Freudʼschen Psychoanalyse in Zürich. Ursprüngliches Ausbildungsinstitut der SGPsa war das Psychoanalytische Seminar Zürich, dem im selben Jahr die Anerkennung durch die SGPsa und damit auch die IPA entzogen wurde (vgl. A. Moser, 2012). In der Folge der 68er-Bewegung verfolgte das Psychoanalytische Seminar eine Entwicklung in Richtung Auflösung aller hierarchischen Strukturen und übergab schliesslich als erstes und einziges Ausbildungsinstitut der IPA die Leitung des Seminars den Ausbildungskandidatinnen und Ausbildungskandidaten. Einige Mitglieder der Zürcher Gruppe, aber auch Mitglieder der anderen Regionen der SGPsa, insbesondere die Kollegeninnen und Kollegen der französischsprachigen Schweiz konnten diese Demontage der üblichen Ausbildungsstrukturen der IPA schliesslich nicht mehr akzeptieren. Nach dem Scheitern jeglicher Reorganisationsversuche durch die Präsidenten der SGPsa und der IPA wurde die Spaltung, die die Entwicklung und Situation der Psychoanalyse in Zürich bis heute prägt, unvermeidbar.
Martha Eicke-Spengler (Ausbildungsanalytikerin SGPsa, 1925-2011) beschreibt, wie die Zürcher Freudianer damals vom Strudel der Ereignisse mitgerissen wurden. Sie schildert eindrücklich, wie für sie und andere Kolleginnen und Kollegen das Führen von Analysen, Supervisionen und Seminaren im entstandenen tumultuösen Geschehen unmöglich wurde: «In der Tat hatten sich Mitglieder und Kandidaten immer mehr als Sympathisanten einer marxistisch verstandenen sogenannten Selbstverwaltung oder aber als Analytiker, welche in Ruhe lehren resp. als Kandidaten, die einfach ihre Ausbildung machen wollten, auseinandergelebt. Ich selbst wurde, obwohl ich zunächst den fruchtbaren Impulsen durch eine lebendige engagierte Gruppe Interesse entgegen gebracht hatte, mehr und mehr vom Destruktiven in der Entwicklung, in die wir geraten waren, erschreckt. Es gelang kaum mehr, sich den stürmischen Diskussionen, den zahlreichen Reorganisationsvorschlägen und kontroversen Argumenten zu entziehen. Sie bestimmten die Assoziationen unserer Kandidaten auf der Couch, überrannten in ihrer dringlichen Realität die sorgfältige Arbeit an den Phantasien, störten Übertragungsentwicklungen und färbten Gegenübertragungsreaktionen. Es konnte nicht ausbleiben, dass auch die Sitzungen des Unterrichtsausschusses davon erfasst und seine Beschlüsse durch Kontroversen blockiert wurden. Heute ist es schwer, Unbeteiligten ein Bild der enormen Überforderung zu vermitteln, in die wir als Analytiker durch die Zumutung geraten waren, im Konkreten Stellung zu beziehen, politische Entscheidungen zu treffen, uns also innerhalb unseres analytischen Aufgabenbereiches auf eine Weise zu verhalten, die uns mit unserem Berufsethos, unserem Selbstverständnis als Analytiker in Konflikt brachte» (Eicke, M., 1994). Martha Eicke-Spengler war beauftragt worden, die «Dissidentengruppe», die auf die «Selbstautorisierung» beharrte und zu welcher ungefähr die Hälfte der damaligen Mitglieder sowie ein Grossteil der Kandidaten gehörte, aus den Seminarräumen auszusperren. Über diesen schwierigen Schritt schreibt sie: «… eine Aufgabe, die ich in der Überzeugung übernahm, dass es wichtig sei, in Zürich auch eine international anerkannte Stätte für die Psychoanalyse zu erhalten. Mit dem Gefühl von Trauer darüber, etwas Unwiederbringliches zu verlieren, das uns nicht gelungen war festzuhalten, und in der Hoffnung, dass wir fähig seien, ein Erbe bewahren zu helfen, das für viele von Bedeutung war, machte ich mich an die Arbeit» (Eicke, M., ebd.).
Die Aufgabe, Zürich als eine international anerkannte Stätte für die Psychoanalyse zu erhalten, stand für die Gruppe der Zürcher SGPsa-Mitglieder und die verbleibenden wenigen Kandidaten, die das Freud-Institut nach dieser erschütternden Krise gründeten, im Zentrum.
Zur Frage der Notwendigkeit einer institutionalisierten Psychoanalyse äusserte sich Freud selbst mehrfach. Er war der Meinung, eine private Gesellschaft solle sich um die psychoanalytische Ausbildung kümmern, damit diese von staatlichen, politischen oder bildungspolitischen Einflüssen unabhängig bleibe. Es war ihm klar, dass innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung die Gefahr der Macht von Übertragungsbeziehungen (in Liebe und Hass) zwischen Auszubildenden und Ausbildnern eine besondere Rolle spielen würde und hoffte, die institutionelle Struktur würde ihren Beitrag leisten, um diese Gefahr einzudämmen oder zumindest zu kanalisieren.
Auch heute verstehen Psychoanalytiker die Institution als Dritten, der die dualen Beziehungen der persönlichen Analyse und Supervision triangulieren soll.
Psychoanalytische Institute und Gesellschaften der IPA haben die Aufgabe, sich mit der komplexen Vermischung von Ausbildungsstrukturen, Didaktik und Macht auseinanderzusetzen und sich in einem andauernden, nie endenden Reflexionsprozess darüber Rechenschaft abzulegen, wie das von ihnen gewählte Ausbildungsmodell mit den Grundkonflikten, die zu einer psychoanalytischen Ausbildung gehören, umgeht.
Jede Weiterentwicklung institutioneller Strukturen sollte innerhalb dieses von allen Mitgliedern mitgestalteten Reflexionsprozesses stattfinden und zwar auf der Basis eines erarbeiteten Verständnisses der jeweiligen Entstehungsgeschichte der bestehenden Strukturen.
Von den drei von der IPA anerkannten Trainingsmodellen (Französisches Modell, Eitingon-Modell und Uruguay-Modell) legt jedes einzelne seine eigenen Strategien für den Umgang mit den Grundkonflikten der Ausbildung fest.
Innerhalb der International Psychoanalytic Association (IPA) wird eine breite Diskussion über Vor- und Nachteile der diversen Tradierungsmodelle geführt. Verfolgt man die verschiedensten Spaltungen, die es innerhalb der Geschichte der psychoanalytischen Gesellschaften gab und gibt, waren es – wie auch in Zürich – immer Fragen der Ausbildung und Tradierung, die Spaltungsbewegungen auslösten.
Die SGPsa und damit auch das Freud-Institut Zürich richten sich nach von den Mitgliedern der SGPsa gemeinsam festgelegten Statuten sowie Reglementen und bilden ihre Ausbildungskandidatinnen und Ausbildungskandidaten in einer Variation des französischen Modells aus. Dazu gehören die eigene Selbsterfahrung bei einem Mitglied der SGPsa, zwei Supervisionen bei von der SGPsa anerkannten Ausbildungsanalytikern und der mehrjährige Besuch von technischen wie auch theoretischen Seminaren. Die einzelnen Etappen werden flankiert von Gesprächen mit Mitgliedern des Unterrichtsausschusses der SGPsa, die ihrerseits die dualen Supervisionsbeziehungen triangulieren. > Ausbildungsrichtlinien der SGPsa
Diese triangulierenden Strukturen finden sich in der Erweiterung des lokalen Kollegenkreises durch die Mitglieder der anderen Regionen der SGPsa wieder.
Gibt es eine deutschschweizerische psychoanalytische Identität? Und wenn ja, wie lässt sie sich fassen? Ich würde sagen, dass wir einen weniger selbstverständlichen theoretischen Stand haben als unsere französischsprachigen Kollegen, die sich mehr oder weniger nach Paris orientieren und in Anlehnung an die französische Psychoanalyse eine weniger kontrovers erworbene psychoanalytische Identität entwickeln können. Diese Tendenzen in Bezug auf die aktuellen Denkstile sind anlässlich der «Congrès des Langues Romanes» gut erkennbar, und man kann sich dank der Zugehörigkeit zur Gruppe der französischen Analytiker einigermassen darauf verlassen, von seinen Kollegen verstanden zu werden, weil sie in etwa die gleichen Vorträge gehört und die gleichen aktuellen Texte gelesen haben.
Wohin orientieren wir uns aber in Zürich? Die deutsche Psychoanalyse kann uns nicht dasselbe bieten wie die französische den welschen Kollegen. Allzu verunsichert haben sich unsere deutschen Kollegen nach dem Krieg lange Jahre gescheut, eigenes kreatives Denken ernst zu nehmen und zu formulieren. Unsere Ausbildner verfolgen unterschiedliche Denkweisen und Stile, was es den Auszubildenden nicht immer leicht macht. Unsere Identität gegenüber unseren französischsprachigen Kollegen erscheint auf den ersten Blick fragiler, auf den zweiten aber auch breiter angelegt und vielfältiger. Ich gehe davon aus, dass wir uns ausführlicher und differenzierter mit unterschiedlichen Schulen sowie Denkweisen befassen und dadurch weniger in Gefahr geraten, einer «unité de doctrine» zu verfallen. Was zunächst als Fragilität, weil nicht einheitlich, erscheint, lässt uns möglicherweise als Kliniker primär auf dem «Boden» des eigenen Erlebens stehen, der uns unmittelbar erste Orientierung für das Verständnis unserer Patienten bietet, bevor wir uns mit dazu passenden theoretischen Konzepten befassen.
Unsere Kandidaten bekommen im Verlauf ihrer Ausbildung am Freud-Institut eine weite Übersicht über diverse psychoanalytische Schulen und Theorien und lernen, sich in einer aktuellen «Geographie der Theorie» einigermassen zurechtzufinden. Es ist möglich, dass sie sich am Freud-Institut ihre psychoanalytische Kompetenz bei zwei Supervisoren und mehreren Seminarleitern aneignen, die in ihren Auffassungen und ihrer theoretischen Zugehörigkeit sehr verschieden orientiert sind. Damit müssen die Analytikerinnen und Analytiker in Ausbildung am Freud-Institut zurechtkommen. Das kann verunsichernd wirken, unterstützt aber auch die Eigenständigkeit.
Nach wie vor sind wir am Freud-Institut eine kleine Gruppe von aktiven, engagierten Mitarbeitern. Im Jahr 2020 zählten wir 43 Mitglieder, 14 Kandidatinnen und Kandidaten, 22 Gäste und 34 Hörer und Hörerinnen.
Zu unseren Seminaren, Vorträgen, anderen Veranstaltungen und organisatorischen Sitzungen treffen wir uns in den unlängst neu bezogenen Räumen an der Seefeldstrasse 62, wo auch unsere umfangreiche Bibliothek mit «Schätzen» aus allen Phasen seit Beginn der Freudʼschen Psychoanalyse untergebracht ist.
Seit 1999 sind wir als Verein organisiert, der sich folgenden Geschäften widmet:
1. Fortbildung der Mitglieder und assoziierten Mitglieder der SGPsa
2. Ausbildung zu Psychoanalytikern nach den SGPsa-Statuten und den Richtlinien des Unterrichtsausschusses der SGPsa
3. Betrieb des Freud-Instituts Zürich
4. Führen der Bibliothek der SGPsa am Freud-Institut Zürich
5. Psychoanalytische Reflexion gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen
6. Förderung des Austauschs mit anderen Wissenschaften
7.Vertretung der Psychoanalyse in der Öffentlichkeit und Austausch mit verwandten Institutionen und Gruppierungen, insbesondere in Psychotherapie, Psychiatrie und klinischer Psychologie
Das Freud-Institut wird von einem alle drei Jahre neu zu wählenden Vorstand geleitet, der sich aus einem Präsidenten/einer Präsidentin, einem Aktuar/einer Aktuarin und einem Beisitzer/einer Beisitzerin zusammensetzt.
Das jährliche Programm organisiert eine Programmkommission entsprechend den Vorgaben des Unterrichtsausschusses der SGPsa. Zudem gibt es eine Bibliothekskommission sowie projektorientierte Kommissionen, die entsprechend Bedarf eingesetzt werden können.
Neben unserem «Kerngeschäft», der Ausbildung von Psychoanalytikern betreiben wir auch die «postgraduale Weiterbildung in psychoanalytisch orientierter Psychotherapie» (PTW), die sich an angehende Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und an angehende psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten richtet.
Neben den regelmässig stattfindenden Seminaren zu klinischen und theoretischen Themen innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung SGPsa und unseren jährlichen Tagungen zu Freuds Schriften bieten wir einen öffentlichen Zyklus an, der jedes Jahr zu einem anderen Thema neu konzipiert wird und aus Vorträgen besteht, die jeweils am Freitagabend stattfinden. Die Vorträge werden von eingeladenen Dozentinnen und Dozenten aus anderen IPA-Gesellschaften, aber auch von Kolleginnen und Kollegen aus den eigenen Reihen gehalten.
Unser Eingebundensein nicht nur in die SGPsa, sondern auch in die IPA und die EPF (European Psychoanalytic Federation) erlaubt uns eine Auseinandersetzung mit Kollegen aus anderen psychoanalytischen Gesellschaften bezüglich vieler aktueller Fragen und Themen, die Analytiker heute beschäftigen.
Die Diskussionen mit anderen und der Einblick in ihre Lösungsversuche stärken die eigenen Möglichkeiten und schärfen den Blick auf die eigene Situation und entsprechende Lösungen.
Zudem bietet die Teilnahme an IPA- und EPF-Kongressen und -Meetings den Zugang zu einer breiten, niemals einseitigen aktuellen Theorie-Diskussion.
Die Zugehörigkeit zur IPA und EPF stellt den Mitgliedern und Kandidatinnen und Kandidaten des Freud-Instituts einen erweiterten identitätsbildenden Rahmen für vielfältigen professionellen Austausch zur Verfügung.
Es scheint mir bedeutungsvoll, diese Besonderheit unseres Instituts, welches unsere ältere Generation für uns in Zürich nach der Spaltung bewahren wollte, hervorzuheben, weil ich wie viele andere Kolleginnen und Kollegen erfahren habe, wie unterstützend und hilfreich dieser triangulierende, erweiterte Raum für die Konsolidierung unserer psychoanalytischen Identität sein kann. «I cannot think at home» ist ein Satz, den man immer wieder in internationalen Arbeitsgruppen hören kann. Lokale Schwierigkeiten, die teilweise unumgänglich den vielfältigen Übertragungsbeziehungen geschuldet sind, können produktives und kreatives Denken immer mal wieder erschweren. Regelmässige Treffen und Austauschmöglichkeiten mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gesellschaften und Gruppierungen sind deshalb für viele von uns unentbehrlich und meines Erachtens für die Weiterentwicklung von psychoanalytischem Denken essenziell. Wir können unseren älteren Kollegen, unseren Ausbildnern, der Generation der Spaltung heute dankbar sein für den Einsatz, mit welchem sie die institutionalisierte Psychoanalyse in Zürich erhalten haben.
Eicke, Martha (1994): Mein Weg zur und mit der Psychoanalyse. In: Hermanns, L. M. (Hrsg.), Selbstdarstellungen II, edition diskord, Berlin.
Moser, Alex (2012): Die Professionalisierung der Psychoanalyse. Gesellschaftliche und berufspolitische Entwicklungen. In: Handwerker-Küchenhoff, B. und Lier, D. (Hrsg.), Stadt der Seelenkunde, Psychoanalyse in Zürich, Schwabe reflexe, Muttenz, Basel. Zürich
Notizen zur Geschichte der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse
Mit freundlicher Genehmigung des Autors:
Dr. med. Alexander Moser
Zur historischen Entwicklung in der Deutschschweiz
Die Schweizer waren «Psychoanalytiker der ersten Stunde». Eugen Bleuler (1857 – 1939) verpflanzte die Psychoanalyse in die Schweiz, machte Carl Gustav Jung (1875 – 1961) auf diese aufmerksam und bewirkte zum Beispiel, dass Jung am 25. Januar 1900 vor der Zürcher Klinik über Freuds Traumlehre referierte.
Eine Anzahl Ärzte aus dem Ausland fanden über Eugen Bleulers Klinik den Weg zu Freud, so auch Karl Abraham (1877 – 1925), Hermann Nunberg (1884 – 1970), Sabina Spielrein (1885 – 1942), Otto Gross 1877 – 1920), Max Eitingon (1881 – 1943) und Abraham Arden Brill (1874 – 1948).
Die Zürcher Gruppe war ebenfalls massgeblich an der Herausgabe der fünf Bände des «Jahrbuchs» beteiligt, die zwischen 1909 und 1913 erschienen sind; nachdem Freud am 6. Juni 1907 an Jung geschrieben hatte: «… Redakteur können nur Sie sein, Bleuler wird es hoffentlich nicht abschlagen, neben mir als Herausgeber zu fungieren» (Freud/Jung 1974, 65).
Freud hat sicher nicht übertrieben, wenn er 1914 (X,66 ) schrieb: «Die Züricher wurden so die Kerntruppe der kleinen, für die Würdigung der Analyse kämpfenden Schar. Bei ihnen allein war die Gelegenheit, die neue Kunst zu erlernen und Arbeiten in ihr auszuführen. Die meisten meiner heutigen Anhänger und Mitarbeiter sind über Zürich zu mir gekommen».
Die wechselvolle Geschichte der Institutionalisierung begann im Jahre 1907, als die «Gesellschaft für Freudsche Forschungen» in Zürich unter dem Vorsitz von Eugen Bleuler gebildet wurde. Sie bestand aus etwa zwanzig Mitgliedern.
Im Jahre 1910 entstand aus der «Gesellschaft für Freudsche Forschungen» die psychoanalytische Ortsgruppe der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung. Erster Obmann war Ludwig Binswanger und Eugen Bleuler trat als Mitglied bei.
Einige ausländische Mitglieder dieser Gruppe, Mitarbeiter von Eugen Bleuler an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, zogen wieder weg – wie Karl Abraham, Max Eitingon und Hermann Nunberg. Andere gingen früh eigene wissenschaftliche Wege, wie Ludwig Binswanger und Alphons Maeder. Einige schlossen sich anlässlich von C. G. Jungs Abspaltung 1913 ihm an. Nach allerlei Turbulenzen in den folgenden Jahren fand am Montag, dem 24. März 1919, abends 8 Uhr, die erste wissenschaftliche Sitzung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse in der Wohnung von Fräulein Dr. Gilonne Brüstlein an der Bahnhofstrasse 102 in Zürich unter Beisein der Gäste Eduard Jones, Otto Rank und Hans Sachs statt. Das Thema der Sitzung war: «Die Psychoanalyse als geistige Bewegung». Unter den elf Gründungsmitgliedern befanden sich Dr. med. Arthur Kielholz, Dr. med. Emil Oberholzer, Dr. med. Mira Oberholzer-Gincburg, Pfr. Oskar Pfister und Dr. med. Hermann Rorschach. Präsident der Gesellschaft wurde Emil Oberholzer; Hermann Rorschach wurde zum Vizepräsidenten gewählt.
In den darauffolgenden Jahren beschäftigte man sich vor allem mit angewandter Psychoanalyse. Man versuchte psychoanalytische Konzepte in Psychopathologie, Pädagogik und – durch Oskar Pfister – in der Seelsorge anzuwenden.
1928 wurde erstmals ein Unterrichtsausschuss geschaffen und Ernst Blum gründete ein psychoanalytisches «Kränzchen»; bereits 1929 sprach man vom «psychoanalytischen Seminar». Zur Belebung der Szene trugen der von Deutschland nach Basel umgezogene Heinrich Meng sowie Hermann Nunberg und Frieda Fromm-Reichmann, die in diesen Jahren vorübergehend Mitglieder der SGPsa waren, wesentlich bei. Am Internationalen Kongress der Psychoanalytiker in Luzern 1935 nahmen aus der Schweiz 300 Interessenten teil.
Von den 24 Mitgliedern im Jahre 1937 tendierten die französischsprachigen stark nach Frankreich (Henri Flournoy, Raymond de Saussure und André Repond waren zugleich Mitglieder der Pariser Gesellschaft) und von den deutschsprachigen Mitgliedern vertraten Ludwig Binswanger und Medard Boss immer ausgeprägter eine neue Richtung, die Daseinsanalyse.
In den späten vierziger Jahren öffnete man sich auch in der Zürcher Psychiatrie neuen Ideen. Man schickte den Mitarbeiter Gaetano Benedetti nach den USA, um ihn die Psychoanalyse psychotischer Zustände studieren zu lassen, die unter dem Namen von John Rosen’s «Direkter Psychoanalyse» bekannt geworden war.
In der Folge erprobte man effektiv verschiedene Formen von Psychotherapien von Schizophrenen, wobei (unter gelegentlichem Beizug von Mme Marguerite A. Sechehaye) u. a. Balthasar Staehelin (1923 – 2005), Christian Müller (1921 – 2013) und vor allem Gaetano Benedetti (1920 – 2013) an diesen Arbeiten teilnahmen (Benedetti 1975).
Ausserdem berief Manfred Bleuler Gustav Bally und Medard Boss, beides Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, ans Burghölzli, um die dort tätigen Assistenten in das Gebiet der Psychoanalyse einzuführen.
1958 wurde in Zürich ein «Psychoanalytisches Seminar für Kandidaten» gegründet, das nach verschieden Umzügen für viele Jahre an der Kirchgasse eigene Räumlichkeiten fand. Eine so weitgehende Öffnung, dass sich Interessenten z. B. aus der Psychiatrie hätten ein besseres Bild von der Art und Weise machen können, wie diese «zünftigen» Psychoanalytiker die Psychoanalyse verstanden, kam im Wesentlichen erst in den 1970er-Jahren auf Betreiben einiger jüngerer Psychiater zustande.
Mit dem Mai 1968 kamen von verschiedensten Seiten der Kandidaten zunehmend Wünsche nach «demokratischeren Strukturen», Mitsprache und Mitbestimmungsrecht bei der Administration der Institution, die einmal mehr und einmal weniger von marxistischem Gedankengut mitgeprägt waren, insbesondere auch von der Institutionskritik der Studentenbewegung in Frankreich.
In Zürich mussten die Kandidaten die Revolution nicht selber durchführen, Fritz Morgenthaler besorgte dies 1970 mit einem Dekret von oben, das mit folgendem Satz begann:
«Das psychoanalytische Seminar Zürich soll als erstes Ausbildungsinstitut einer psychoanalytischen Gesellschaft der IPA von den Studenten selbst übernommen und geführt werden».
In der Folge errichteten die Kandidaten nach Modellen der 68er-Bewegung und rätedemokratisch-anarchistischen Idealen eine Organisationsstruktur, in der in einer «Teilnehmerversammlung aller Gleichberechtigten» (Lehranalytiker, Lehranalysanden und Gäste) alle administrativen Probleme – nicht aber Selektionsfragen – diskutierenderweise und mit möglichst wenig Abstimmungen gelöst werden sollten. In spätestens ein bis zwei Jahren wurde klar, dass die unstrukturierte Teilnehmerversammlung der einzigen strukturierten «marxistischen» Untergruppe praktisch hilflos ausgeliefert war.
Fritz Meerwein beschrieb 1987 die Situation der frühen Siebzigerjahre folgendermassen:
«Dass die Selbstverwaltung (nicht die Selbstautorisierung) eine demokratische zu sein habe, war zwar unbestritten. Lange Zeit blieb aber unausgesprochen oder unbemerkt, dass sich unter den Teilnehmern zwei voneinander völlig verschiedene Demokratisierungsvorstellungen gegenüberstanden. Während für die einen Demokratie Führung durch eine beschlussfähige Mehrheit bedeutete, ging es den andern darum, diese Mehrheit als antidemokratisch zu denunzieren, einzuschüchtern und durch die Minderheit zu kontrollieren. Aus dieser, nur in einer offenen Gruppe denkbaren Kollision entwickelten sich oft endlose, ermüdende Debatten und Filibuster, welche in immer wiederholter Beschluss- und Entschlusslosigkeit endeten, so dass kaum mehr Selbstverwaltungsbeschlüsse gefasst und durchgeführt werden konnten. So drohte, was scheinbar harmlos und jugendbewegt begann, dem einen zur Freud und dem andern zum Leid bald in Chaos und Anarchie zu versinken, und jede geordnete Ausbildungstätigkeit, auch Selbstausbildung mit Hilfe des Seminars, musste damit zu einem Ende kommen».
Allmählich wurde einer grösseren Zahl von Mitgliedern der SGPsa die Unhaltbarkeit der Situation klar. Nach mehreren Anläufen wurde schliesslich mit einer Statutenrevision die Leitung der Ausbildungszentren Mitgliedern der SGPsa übertragen, die jährlich von der Generalversammlung gewählt werden mussten. Die nachfolgenden langwierigen Verhandlungen über die Übergabe der Seminarleitung wurden schlussendlich von der SGPsa mit einer Schliessung des Seminars beendet, worauf sich die «marxistisch dominierte» Mehrheit unter Beanspruchung des traditionsreichen Namens «Psychoanalytisches Seminar Zürich» (PSZ) abspaltete und an der Tell-, später der Quellenstrasse eigene Räumlichkeiten bezog.
Die SGPsa führte ihre Ausbildungsstätte unter dem Namen «Ausbildungszentrum der SGPsa» und später unter der Bezeichnung «Freud-Institut Zürich» weiter. In den folgenden Jahren erhöhte sich die Teilnehmerzahl des «Psychoanalytischen Seminars Zürich» auf mehrere Hundert, wobei sich ein Grossteil dieser Teilnehmer als Analytiker versteht und in der Öffentlichkeit eine rege Aktivität entfaltet. Ein derartig exponentielles Wachstum ist bekanntlich überall möglich, wo Analysanden, relativ rasch nach Beginn ihrer Analyse, «sich selbst autorisierend», als Analytiker deklarieren.
Bemerkungen zu einigen besonders herausragenden historischen Persönlichkeiten in der Psychoanalyse der deutschen Schweiz
Hermann Rorschach (1884 – 1922) war als Gründungsmitglied der SGPsa Psychoanalytiker, bevor er durch seinen Formdeutversuch zu Weltruhm kam.
Philipp Sarasin (1888 – 1968) wurde nach Walser von Freud analysiert und führte während Jahrzenten eine psychoanalytische Praxis in Basel; er präsidierte als begabter Organisator die SGPsa von 1928 – 1960.
Unter den Gründern ragt der Zürcher Pfarrer Oskar Pfister (1873 – 1956) besonders hervor. Er kam vor allem aus seelsorgerlich-theologischen Bedürfnissen zur Psychoanalyse. Sein Verdienst liegt in der Ausdehnung der Anwendungen der Psychoanalyse auf Gebiete wie der Theologie und der Pädagogik. Er war mit über 170 Titeln und mehreren Büchern publizistisch sehr produktiv und u. a. auch der eigentliche Begründer einer psychoanalytischen Pädagogik.
Heinrich Meng (1887 – 1972) kam 1933, aus Baden stammend, in die Schweiz und war während Jahrzehnten ein führender Psychoanalytiker in Basel. 1926 gab er zusammen mit Paul Federn das psychoanalytische Volksbuch heraus und in seinem Buch «Psyche und Hormon» (1944) versuchte er eine Verbindung zur Endokrinologie herzustellen. In «Strafen und Erziehen» (1934) befasste er sich mit psychoanalytischer Pädagogik. Mengs grösste Bedeutung liegt auf dem Gebiet der Psychohygiene.
Rudolf Brun (1885 – 1965), der wie Auguste Forel wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Ameisenforschung publizierte und lange an der Zürcher Neurologischen Poliklinik von Konstantin von Monakow (1853 – 1930) tätig war, entwickelte eigene bio-psychologische Anschauungen, die er in seiner bekannten «Allgemeinen Neurosen-Lehre» (1942) zusammengefasst hat. Er hat mehrere der bekannteren Zürcher Analytiker analysiert.
Fritz Morgenthaler (1919 – 1984), wie zahlreiche andere Zürcher Analytiker von Rudolf Brun analysiert, gehört zusammen mit Paul Parin (1916 – 2009) zu den international bekannteren Schweizer Analytikern, aufgrund vor allem der gemeinsamen originellen ethnopsychoanalytischen Forschungen in Afrika. Aber auch seine Veröffentlichungen über psychoanalytische Technik (1978), über Homosexualität und Perversionen (1984) und über den Traum (1986) fanden weite Verbreitung.
Fritz Meerwein (1922 – 1989), zuerst von Gustav Bally analysiert, wurde vor allem aufgrund seiner psychoanalytischen Forschungen auf dem Gebiete der Psychosomatik («Das ärztliche Gespräch, eine Einführung in die Psychosomatik» 1969) und der Psychoonkologie (1981) bekannt. Er lehrte an der Universität Zürich und war Gründer einer Stiftung für Psychoonkologie.
In Bern fand sich eine Gruppe jüngerer Analytiker zusammen (ab 2000 das Sigmund-Freud-Zentrum Bern), obwohl sich dort in früheren Zeiten Ernst Blum, Hans Zulliger, Max Müller und Arnold Weber bis zur Krise der Psychoanalytischen Gesellschaft 1927/1928 regelmässig getroffen hatten.
Ernst Blum (1892 – 1981) wurde von Freud analysiert. Er hatte einen weit gespannten Interessenshorizont und nahm innerhalb der Schweizer Psychoanalyse einen eigenständigen Standpunkt ein.
Hans Zulliger (1893 – 1965), einer der international bekanntesten Schweizer Analytiker, war einer der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik und einer eigenständigen Form der Kinder-Analyse. Er gab auch zwei modifizierte Rorschach-Tests heraus, den Behn-Rohrschach-Test und den Z-Test für Gruppenuntersuchungen. Sein Buch über jugendliche Diebe (1952) fand grosse Beachtung. Zu den besonderen Verdiensten Zulligers gehört, dass er durch eine ausgedehnte Lehr- und Vortragstätigkeit Wesentliches zur Neubegründung der Psychoanalyse in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hat.
Ernst Schneider (1878 – 1957) machte bei Oskar Pfister und C. G. Jung psychoanalytische Selbsterfahrungen. Bei seiner erzwungenen Demission als Direktor des bernischen Lehrerseminars durch die Berner Regierung 1916 spielten seine psychoanalytischen Überzeugungen eine wesentliche Rolle, was Freud veranlasste, in seiner 15. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse zu sagen, dass «in der freien Schweiz kürzlich ein Seminardirektor wegen Beschäftigung mit der Psychoanalyse seiner Stellung enthoben worden» sei. Schneider gab von 1926 an zusammen mit Heinrich Meng die «Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik» heraus, deren Redaktionsstab sich später Anna Freud, Hans Zulliger, Siegfried Bernfeld, August Aichhorn und Paul Federn zugesellten. Nach dem 11. Jahrgang setzte der Einmarsch der Nazis in Österreich ihrem Erscheinen ein Ende, sie fand aber eine Art Fortsetzung in der nach dem Krieg gegründeten «Psychoanalytic Study of the Child».
Max Müller (1894 – 1980), der die Berner Psychiatrie über viele Jahre entscheidend prägte, verleugnete als Direktor der Berner Psychiatrischen Klinik Münsingen und später der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau, Bern, den Analytiker nie. (Er hat unter anderen Friedrich Glauser analysiert; eine Erfahrung, welche Glauser in seinem Roman «Matto regiert» verwendet hat).
Zur historischen Entwicklung der SGPsa in der Romandie
Um die Jahrhundertwende war das kulturelle Interesse in der Westschweiz weitaus stärker als heute sowohl auf die deutsche wie auf die französische Kultur ausgerichtet, was sich etwa im Brauch manifestierte, dass Studenten einige Semester sowohl an deutschen Universitäten wie auch in Paris verbrachten. Für den Linguisten Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) bedeutete dies, dass er schon am Genfer Collège als Zeitvertreib das faszinierende Spiel des Vergleichens des lateinischen, griechischen, französischen und deutschen Wortschatzes entdeckt hatte, eine Beschäftigung, die ihn zu eigenständigen Vorstellungen über die Struktur der sprachlichen Kommunikation führte. Er hielt noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts am Collège de France Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaften und seine Arbeiten leiteten schliesslich ein neues Zeitalter der Sprachtheorie ein. Ein anderes Beispiel für die enge Verzahnung der beiden Kulturen bildet der Westschweizer Professor Auguste Forel, der in Deutschland die Anatomie des Zentralnervensystems lehrte, bevor er Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich wurde.
Insbesondere in Genf traf die Psychoanalyse auf eine wissenschaftliche Tradition, die stark von Frankreich geprägt war. Um die Jahrhundertwende lehrte in Genf der Psychologe Théodore Flournoy (1854 – 1920), über den sein Enkel Olivier Flournoy (1925 – 2008) 1986 eine brillante Monografie verfasst hat: «Théodore et Leopold – De Théodore Flournoy à la Psychoanalyse». Théodore Flournoy, für den die Universität Genf 1891 einen Lehrstuhl für physiologische Psychologie errichtet hat, interessierte sich, wie Charcot und Freud für Hypnose und hypnoide Zustände, an denen ihn besonders die nichtbewussten psychischen Tätigkeiten faszinierten. In einer Monografie «Des Indes à la Planète Mars» schildert er 1900 einen Fall von Somnambulismus und Glossolalie, bei dem er Zustände des «Nichtbewussten» beschreibt, die er auch «subliminal» nennt und über eine Form von Erinnerungen berichtet, die er als «unterbewusst», «subconscient» qualifiziert. Darüber hinaus beschreibt er psychische Funktionen, die heute jedem Psychoanalytiker durchaus vertraut sind – so Abwehrprozesse, deren Quellen sich auf einem Niveau der kindlichen Psychosexualität befinden, oder Wünsche, die sich je nach den erlebten Schwierigkeiten auf Umwegen ausdrücken; er zeigt auch Schutzsysteme auf gegen die Gefahren der Somatisierung und der Psychosen, sowie Kompensationsmechanismen gegen Gefühle der Unfähigkeit und Unterlegenheit. Sein Begriff des Unbewussten war ein «dynamischer». In seinen Bemerkungen zum Traum – meint sein Schüler Eduard Claparède (1873 – 1940) – findet sich schon das ganze praktische und theoretische Programm der Psychoanalyse. Olivier Flournoy wies 1982 darauf hin, dass Théodore Flournoy bereits im September 1900 über Freuds Traumdeutung an der Universität Genf berichtete, nachdem dieses Werk im November 1899 erschienen war. So öffnete Théodore Flournoy schon zur Jahrhundertwende seinen Schülern – unter ihnen Claparède – den Blick auf das Unbewusste und die Ideen Freuds. Der Einfluss von Claparède war entscheidend für die Anerkennung der Ideen Freuds im französischen Kulturraum). Auf diese Weise entstand sowohl die Genfer Schule der Psychologie (Institut Jean Jacques Rousseau), aus der die Schule der genetischen Psychologie von Jean Piaget hervorging, als auch die Gruppe derer, die die ersten Psychoanalytiker der Westschweiz werden sollten; zu ihnen gehörten Raymond de Saussure, Henri Flournoy und Charles Odier.
Raymond de Saussure (1894 – 1971) war der Sohn des als Vater der modernen Linguistik bekannten Ferdinand de Saussure. Er war eine Art «psychoanalytischer Senkrechtstarter», interessierte sich gleich nach der Matura für die Psychoanalyse, besuchte die Vorlesungen von Théodore Flournoy und publizierte erst vierundzwanzigjährig, in der ersten Nummer des International Journal of Psycho-Analysis eine ausgezeichnete Zusammenfassung der gesamten französischen psychoanalytischen Literatur. 1919 war er an der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse mitbeteiligt und hielt an der fünften Sitzung dieser Gesellschaft einen Vortrag über die «Antonins», eine mystische Sekte.
In ungefähr derselben Zeitspanne wie seine beiden Freunde Charles Odier und Henri Flournoy wurde er von Freud analysiert – ein erstes Mal schon 1920 oder 1921 während sechs Monaten, nach denen er ein Buch schrieb: «La méthode psychanalytique» (1922, Payot, Lausanne), das mit einem Vorwort von Freud erschien und von Jones sehr positiv rezensiert wurde (International Journal of Psycho-Analysis IV, 1923). Es handelt sich um ein systematisches Buch, mit vielen Beispielen illustriert, über Fehlhandlungen, Träume, Symptombildungen usw. Man findet schon in diesem Werk ein spezielles Interesse von de Saussure für das Phantasmatische einerseits und für genetische Probleme andererseits.
1927/1928 waren die drei Repräsentanten der Westschweizer Psychoanalyse an der Gründung der psychoanalytischen Gesellschaft in Paris beteiligt und de Saussure war auch einer der ersten Redakteure der «Revue Française de Psychanalyse». 1937 zog Raymond de Saussure nach Paris um, wo er – nachdem er schon ein weiteres Stück Analyse bei Alexander in Berlin gemacht hatte – mehr als zwei weitere Jahre von Löwenstein analysiert wurde. 1940 – 1952 befand er sich in New York, wo er in Kontakt mit der Ich-Psychologie (Heinz Hartmann, Ernst Kris und Rudolph M. Löwenstein) kam und als Lehranalytiker tätig war. «Nach seiner Rückkehr nach Genf im Jahre 1952 wurde de Saussure zum Architekten und Organisator der Psychoanalyse in der Westschweiz», und übernahm von Sarasin die Präsidentschaft, die er darauf während vieler Jahre innehielt.
Den Genfer Charles Odier (1886 – 1954) zählt Marcel Roch neben Raymond de Saussure und Henri Flournoy zu den drei für die Westschweiz wichtigsten Psychoanalytikern. Nach Analysen bei Johan van Ophuijsen und Franz Alexander in Berlin liess er sich 1929 in Paris nieder; er arbeitete in der Redaktionskommission der Revue Française de Psychanalyse mit, deren erstes Heft am 1. Juli 1927 erschienen ist. In dieser Zeitschrift finden sich zahlreiche Arbeiten, die Odier technischen oder klinischen Fragen gewidmet hat; daneben publizierte er 1943, 1947 und 1950 auch drei Monografien.
Henri Flournoy (1886 – 1955) war nach Roch der erste in der Westschweiz praktizierende Psychoanalytiker und spielte eine diskrete, aber besonders wirksame Rolle. Weiter hervorzuheben sind. André Repond, der spätere Direktor der Walliser Psychiatrischen Klinik in Malévoz, der psychoanalytisches Gedankengut nicht nur in die Praxis der psychiatrischen Klinik, sondern auch der Psychohygiene und insbesondere der Sozialpsychiatrie einbrachte. Eine Psychologin seiner Klinik, Germaine Guex, wurde eines der frühesten Mitglieder der SGPsa, bekannt u. a. durch ihre Publikation: «La névrose d’abandon», in der, Jahrzehnte vor anderen entsprechenden Publikationen, spezielle Probleme bei der Behandlung von Patienten mit ausgeprägten prägenitalen Fixierungen diskutiert wurden.
Madame Marguerite A. Séchehaye (1887 – 1964) wurde bekannt durch ihre Arbeiten auf dem Gebiete der Psychosen: «La réalisation symbolique» (1947), «Journal d’une Schizophrène» (1950), «Diagnostics psychologiques» (1949) und weiter «Psychotherapie du Schizophrène» (1954), worin sie über ihre Erfahrungen mit schizophrenen Patienten berichtet. Die letztere Publikation enthält die Vorträge, welche Madame Séchehaye in den Jahren 1951 und 1952 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli hielt.
Michel Gressot (1918 – 1975) war als Psychoanalytiker und Universitätsdozent in Genf tätig und interessierte sich auf der Grundlage seiner weiten philosophischen Bildung vor allem für wissenschaftstheoretische Fragen; in «Psychanalyse et connaissence» (Psychoanalyse und Wissen) 1955, stellte er die genetische Psychologie Piagets der Psychoanalyse gegenüber.
Im Verlaufe der 1960er- und 1970er-Jahre entwickelte sich die Psychoanalyse in der welschen Schweiz stärker und in geregelteren Bahnen als in der deutschen Schweiz, was meines Erachtens vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Psychiater einen grösseren Anteil an den Mitgliedern stellten und viele von ihnen bis heute in führenden Positionen in den Universitätskliniken, Polikliniken und anderen Institutionen tätig sind. Wer sich zum Beispiel anfangs der 1960er-Jahre in Lausanne in Psychiatrie ausbildete, fand sowohl in der Universitätsklinik als auch in der Universitäts-Poliklinik und in der Kinderpsychiatrie einen Direktor vor, der ordentliches Mitglied der SGPsa war (Christian Müller, Pierre Bernard Schneider, René Henny). Im Gegensatz dazu waren die Psychoanalytiker in Zürich relativ isoliert, und das steigende Interesse für Psychoanalyse in der Psychiatrie wurde vorwiegend von anderen Richtungen aufgefangen.
Nach dem Tod von Raymond de Saussure 1971 wurde in Genf das «Centre Raymond de Saussure» gegründet, das auch die Bibliothek de Saussures enthält und sich zum Ausbildungszentrum der Welschschweiz entwickelt hat.
Eine Anzahl ausländischer Psychoanalytiker trug sehr zur Belebung der Szene bei. So in den 1960er- und 1970er-Jahren Paul-Claude Racamier (1924 – 1996), vor allem auf dem Gebiete der Psychosen, und René A. Spitz (187 – 1974), der auch einen «Spitz – Fonds» gründete, zur Finanzierung wissenschaftlicher Tagungen der SGPsa. In Genf war 1959 – 1976 Professor Ajuriaguerra tätig, der als Forscher mit umfassenden Kenntnissen von der Hirnanatomie bis zur Entwicklungspsychologie und als brillanter Denker in der Psychiatrie eine grosse Anziehungskraft besass und der Psychoanalyse gegenüber offenstand, obwohl er nicht selber von ihr Gebrauch machte.
Seit vielen Jahren lehrt auch der Pariser Psychoanalytiker René Diatkine (1918 – 1997) regelmässig in der welschen Schweiz. Von beträchtlichem Einfluss war die Kleinianerin Marcelle Spira, die nach anfänglichem Widerstand der Gesellschaft eine Gruppe von kleinianisch interessierten Kollegen ausbildete, deren Einfluss unter dem Zuzug weiterer Psychoanalytiker aus Südamerika nach Genf grösser wurde.
Zur historischen Entwicklung im Tessin
Die Entwicklung der Psychoanalyse im Tessin zeigt spezifisch schweizerische Verhältnisse in besonders deutlicher Form, die vielleicht etwas vom Europa von morgen vorwegnehmen.
Die Tessiner Psychoanalytiker-Gruppe ist bis heute stärker als diejenigen der übrigen Schweiz einerseits der gleichsprachigen, besonders eng der Mailänder Nachbargruppe zugewandt, andererseits aber auch der anderssprachigen Welschschweizer-Gruppe. Dazu kommen weitere wichtige Beziehungen mit der nochmals anderssprachigen deutschen Schweiz. Die Anfänge der Psychoanalyse im Tessin fallen in die 1950er-Jahre, als spätere Mitglieder der SGPsa die Erfahrungen der von André Repond aufgebauten dynamischen Walliser Psychiatrie in den Tessin brachten. In den 1960er-Jahren kam Professor Pier Mario Masciangelo (1927 – 1999), ein Mitglied der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft in das Tessin und wurde 1970 auch ordentliches Mitglied der SGPsa, womit die Ausbildungsmöglichkeiten im Tessin sich stark verbesserten. Die Gelegenheit zu theoretischer Ausbildung existierte nun im Tessin, am Mailänder Institut, aber vor allem auch in der welschen Schweiz in Genf und Lausanne, mit der traditionellerweise sehr enge Kontakte bestehen, da viele Tessiner Psychiater und Psychologen ihre Berufsausbildung ganz oder teilweise in der welschen Schweiz absolvieren. Dies ist auch der Fall für zahlreiche Psychiater aus Oberitalien, vor allem aus Mailand und Bologna. Einige italienische Psychoanalytiker, die ihre Ausbildung in der welschen Schweiz gemacht haben, sind heute Mitglieder der SGPsa und arbeiten zum Beispiel in Mailand oder Bologna.
Mitte der 1970er-Jahre wurde das Seminario Psichoanalitico di Lugano gegründet. Heute gibt es im Tessin mehrere Mitglieder der SGPsa und eine Anzahl Kandidaten. Die Mitglieder arbeiten zum Teil sowohl mit der SGPsa als auch mit der Italienischen Gesellschaft für Psychoanalyse zusammen, indem sie z. B. auch an wichtigen italienischen Publikationen beteiligt sind.
So ist also die Gruppe der Tessiner Analytiker in besonderem Mass ein geradezu internationaler, multilinguistischer und multikultureller Brennpunkt der Psychoanalyse.
Bemerkungen zur Entwicklung der Psychoanalyse in der Schweiz und zur Lage der SGPsa
Wie eingangs dargestellt, ist die Freudsche Psychoanalyse in der Schweiz ausserordentlich früh rezipiert worden.
In der weiteren Entwicklung zeigte es sich jedoch, dass eine Anzahl Schweizer früher oder später «eigene Wege» gingen, nach der anfänglichen Begeisterung eine zunehmende Ambivalenz entwickelten, z. T. eigene Schulen gründeten oder sich solchen anschlossen, oder aber sich gar zu Gegnern der «orthodoxen» Richtung oder der Psychoanalyse überhaupt entwickelten. Carl G. Jung, Eugen Bleuler, Manfred Bleuler, Ludwig Binswanger, Alphonse Maeder, Medard Boss, um nur einige wenige namentlich zu nennen, zeichneten sich durch eine zunehmende Ambivalenz aus. Eine ambivalente Haltung war in der Folge auch bei zahlreichen Psychiatern und Psychologen zu finden, die selber langjährige Analysen, Supervisionen und eine theoretische Ausbildung gemacht hatten, aber der SGPsa nie beigetreten waren. Darüber hinaus gab es auch innerhalb der SGPsa ebenfalls zahlreiche ausgesprochen unabhängige bis offen ambivalente und distanzierte Mitglieder.
Es wäre eine faszinierende Aufgabe, die Vermutung zu untersuchen, dass Schweizer einen historisch besonders entwickelten Hang haben, «eigene Wege» zu gehen, individualisierten, kleinräumigen Konzepten auf vielen Ebenen den Vorzug zu geben und grösseren Bewegungen irgendwelcher Art mit Misstrauen zu begegnen und deshalb Föderalismus, Regionalismus und Individualismus zu perfektionieren. Dieser Hang kann einerseits schöpferische Vielfalt fördern, psychoanalytisch gesehen aber auch zum Widerstand gegen die Kernkonzepte der Analyse eingesetzt werden. Bela Grunberger (1979) und Janine Chasseguet-Smirgel haben die Ansicht geäussert, dass bei sämtlichen dissidenten Gruppierungen eine Bewegung im Sinne der Projektion festgestellt werden kann – anstelle der Trieb-Wünsche (als ultimum movens) wird teilweise oder ganz eine aussen liegende Motivation postuliert; und diese Form projektiver Entlastung entspricht einem Hauptwiderstand. Im Weiteren wird man bei jeder dissidenten Gruppe eine Bewegung in Richtung des purifizierten Lust-Ichs mit vermehrten unmittelbaren Wunschbefriedigungen für Analytiker und Analysand finden.
Dem grossen Verdienst, das vielen Nichtmitgliedern der SGPsa für die Verbreitung analytischen Wissens in allen möglichen Bereichen zukommt, haftet ein kapitaler Nachteil an. Ausserhalb der SGPsa vermochten die meisten nicht zur Ausbildung weiterer Psychoanalytiker beizutragen, sodass das verbreitete Wissen rasch verdünnt wird und wiederum verloren zu gehen droht. Insbesondere in der Psychiatrie kann aus zahlreichen Gründen eine Art rückläufiger Bewegung festgestellt werden, die einhergeht mit der Rarifizierung psychoanalytisch Ausgebildeter in den Institutionen.
Die neobiologistische Strömung, die, ausgehend von den U.S.A, auch Europa erreicht hat, verschont die Schweiz keineswegs und macht sich besonders in der Psychiatrie bemerkbar. Eine gewisse Ernüchterung der überspannten Hoffnungen, die man nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf die psychoanalytischen Therapiemöglichkeiten der Psychosen hegte und im «Psychoboom» der 1968er-Jahre auf weitere Gebiete übertrug, breitet sich aus, und führt sogar zu einer neu verstärkten Psychoanalysefeindlichkeit. Die Konkurrenz durch andere tiefenpsychologische Richtungen und die vielen weiteren Psychotherapieverfahren machen der Psychoanalyse besonders in der deutschen Schweiz zu schaffen, wo junge Psychologen nicht mehr genügend Arbeitsmöglichkeiten finden.
Freud selber hat die Analyse mit «ferrum» und «ignis» verglichen und trotzdem meint Grunberger, dass Freud das Ausmass der durch die psychoanalytischen Prozesse in Gang gesetzten Kräfte unterschätzt hätte. Aus dieser Sicht sind wohl auch die extremen Schwierigkeiten im Umgang mit Gegenübertragungsphänomenen besser zu verstehen, die uns erstmals in so spektakulärer Form von Carl G. Jung (Sabina Spielrein) und Sandor Ferenczi (Elma Palos) her bekannt sind.
Ein besonders schwer zu lösendes Problem bildet die Selektion innerhalb der SGPsa. Bei der langen Ausbildung betrifft sie im wesentlichen Kandidaten in der zweiten Lebenshälfte und wird durch den traditionell stark ausgeprägten Föderalismus und die Sprachbarrieren erschwert.
Aber es ist klar, dass bei ungenügend ausgebildeten und ungeprüften Analytikern die Gefahr weit grösser ist als bei sorgfältig ausgebildet und geprüften Therapeuten, dass das regressionsinduzierende psychoanalytische Setting zu unreflektiert agierender Destruktion jahrzehntelang aufgebauter beruflicher und persönlicher Beziehungen führt oder zu malignen Regressionen in Richtung Depression, Suizidalität und Psychosen. Es ist keineswegs gleichgültig, ob eine mangelhafte Ausbildung zu derartigen Schwierigkeiten prädisponiert, oder ob alles vorgekehrt wird, um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden – wie dies im Übrigen auch bei allen anderen hochwirksamen und deshalb potenziell auch gefährlichen Therapiemethoden in der Medizin mit Erfolg geschieht.
Eine durchgehend zentralistische Prüfung und Auswahl durch Gremien, die aus Vertretern verschiedener Regionen zusammengesetzt sind, verlangt in der Schweiz nicht allein eine aufwendige Überwindung von Barrieren in Bezug auf Sprache, Kultur und theoretische psychoanalytische Ansichten, sondern auch eine Überwindung eingefleischter föderalistischer und regionalistischer Tendenzen.
Es handelt sich hier um Probleme, die denjenigen in der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (EPF) und in der IPV nicht unähnlich sind, deren Bearbeitung interessant und bereichernd ist – nicht zuletzt im Hinblick auf eine gesamteuropäische Zukunft.
Olivier Flournoy hat die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse als deren Präsident folgendermassen charakterisiert: «Die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse vereint deutsch, französisch und italienisch Sprechende, die sich gelegentlich gezwungen sehen, sich auf Englisch zu verständigen – ein vielversprechendes, aber recht gewagtes Unternehmen.»
Dass die Mitglieder sich darüber hinaus auch dann noch gegenseitig zu tolerieren vermögen, wenn sie Signifikant und Signifikat, allesverschlingende Mutter, Ichpsychologie, Alphafunktionen, imaginären und illusionären Raum durcheinanderwürfeln, grenzt an ein Wunder. Trotz alledem versetzt einen die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse mit ihrem dauerhaften Zusammenhalt, der sich auf eine derartige Vielgestalt von Sprachen und theoretischen Ansichten gründet, in Erstaunen – und dies wird, wie ich hoffe, weiterhin so bleiben.»
Literaturhinweise
Eine ausführlichere Darstellung in englischer Sprache mit den zugehörigen Literaturangaben findet der Leser an folgender Stelle:
Peter Kutter (Ed): Psychoanalysis International. A Guide to Psychoanalysis throughout the world. Vol.1, Europe (Alexander Moser: Switzerland), frommann-holzboog, 1992.
Die bedeutendste Arbeit in deutscher Sprache, welche den Zeitraum bis nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht und an die sich auch unsere Darstellung anlehnt, ist diejenige von Prof. Dr. med. H. H. Walser (1976): Psychoanalyse in der Schweiz, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. (Ed. D. Eicke). Bd. II,1192-1218.Zuerich: Kindler.
Die Anfänge der Psychoanalyse in Bern wurden von Dr. med. Kaspar Weber untersucht: Weber, K. (1991): Aus den Anfängen der Psychoanalyse in Bern. Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse 32, 67-72.